Michael Schneider

Nichts, durchkreuzt

 

Es gibt die Linie, den zurückgelegten Zeichenweg, und das, was keine Linie ist: den Raum oder die rechtwinklige Fläche des Papiers.

 

Die Linie ist meist die unterbrochene, die irgendwo anfangende und irgendwo endende Linie, sie liegt in einem Nichts, das sich zunächst nur als eines definiert: als Nicht-Linie. Das ist Freiheit und Vakuum zugleich. Die Linie will ihren Umraum gar nicht definieren; sie begnügt sich damit, zu sein. Sie tritt in die Nähe des Raums, sie liegt auf dem Papier oder der Wand, legt aber Wert auf eine kleine, staubdünne Distanz.

 

Frühe Vermutung: Als seien es freigestellte Denkvorgänge und Wahrnehmungen, freigestellte Beobachtungen im Nichts. Figur (Linie) und Grund (Papier, Wand, Boden, Raum). „Und das Nichts, das ist mein Gehirn, oder das der Künstlerin. Das Nichts ist mein Gehirn und die Linie ist der Faden, an dem die Zeichnung hängt. Durch eine optische Täuschung möchte man eine Erzählung in sie hineinlesen.
Man findet keine, die Bestand hätte.“

 

Die Linie, die ich sehe, sehe ich meist hinzu.

 

Annes Linien (und aus Linien geht im Grunde ihr ganzes Werk hervor) sind keine Grenzen, sie stehen nicht zuverlässig für Begrenzungen von Körpern, von Formen. Sie bezeichnen nicht, dass auf dieser Seite der Linie etwas endet, auf der anderen Seite etwas beginnt. Deshalb bilden so viele ihrer Linien keine in sich geschlossenen Formen auf dem Papier oder im Raum aus. Sie kehren – mit wenigen Ausnahmen – nicht in sich zurück. Deshalb stehen ihre Strichcluster wie freigestellte, nicht aussprechbare Gedanken auf dem Papier, auf der Wand, ragen im Zickzack oder verwinkelt in den Raum: Auch das Ende der Linie ist mitgedacht, der Strich läuft nicht aus, da ist nichts Malerisches, kein Ausblenden, nur selten etwas Naturalistisches oder vage Illustratives. Es gibt einen Eintrittspunkt der Linie in den Raum und einen Austrittspunkt; ebenso auf dem Papier. That`s all. Auftauchen, Wegtauchen. Die Linie fließt nicht, sie steht. Mit Absicht. Innerhalb des sichtbaren Liniengeflechts scheint ein Vorgang, wenn auch sehr zurückgenommener Individualität, zu liegen, der mit einer simplen Ja - Nein - Operation an seinen Rändern abgeschnitten wird. Aber welchen Rändern, wenn die Linie selbst nichts begrenzt?

 

 

Die Linie kehrt eigentlich nur in sich zurück, wenn Anne Formen aus flächigen Materialien ausschneidet: als Umriss, als Kante der Scheibenwelt. (Wenige Ausnahmen, etwa in manchen Zeichnungen, bestätigen diese Regel.)

 

Die Linie ist bewusst im Zustand ihrer Bewegungslosigkeit festgehalten. Sie entsteht aus der Bewegung (ein Punkt, z. B. die Spitze eines Bleistifts wird von A nach B bewegt; eine Schere rauscht durch den Stoff), aber ihre Herkunft aus der Bewegung soll weder illustriert noch thematisiert werden. Unserer Versuchung, der Linie mit den Augen zu folgen, um eine Art Erzählung aus ihr zu gewinnen, und sei es auch nur die Erzählung einer Wahrnehmung (dass etwa der Blick der Künstlerin an Gegenständen entlang gewandert sei und die Linie dies im Nachhinein illustrierte) soll durch die Arbeit kein Vorschub geleistet werden.

 

Und so stehen die Linien ein klein wenig fremd auf der Fläche oder im Raum, aber eben nur ein klein wenig. Sie sind keine Fremdkörper, sie sind eher Materialisationen von etwas anderem, das sich parallel zu unserem Raum befinden mag (etwas, das man vermutlich nicht auf Denkprozesse, Schilderungen von Wahrnehmungen oder sichtbar gemachte Gefühle reduzieren kann). Die Linien schneiden, queren, kreuzen den Raum, ohne gänzlich in seine drei Dimensionen einzutauchen. Manchmal mäandern sie auf eckige Weise in ihm, bewahren aber dabei ihre Distanz.

 

Das Papier und der Strich sind nicht der gleiche Stoff, sie gehören nicht einmal zur selben Kategorie. Die erkennbaren Linien und Flächen, die ein Blatt Papier oder ein Raum von sich aus aufweisen (seine Begrenzungen, seine Ränder) haben nichts mit den Linien zu tun, die Anne mit ihrem leicht modulierten Bleistift auf das Papier fallen lässt oder mit linear geformten Materialien dem Raum hinzufügt. Fremde Träume. Nein, es sind keine Träume. Doch, es sind Träume. Unentscheidbar.

 

So viele dieser Linien brechen im Nichts ab (aus dem sie gekommen sind). Als wollten sie eher auf das Nichts als auf sich selbst aufmerksam machen.

 

….

 

Die Winkel und Richtungen, die Annes Linien bilden, sind für mich etwas höchst Rätselhaftes, selbst wenn es sich um rechte Winkel und waagrechte Ausbreitungen handelt oder ihre Linien den durch einen Ausstellungsraum vorgegebenen Linien, etwa der Senkrechten, einfach folgen. Sie scheinen selbst dann keine Raum- oder Flächendefinition anzustreben, wenn erkennbare Senkrechten und Waagrechten verwendet werden. Wenn Annes Linien sich mit der Umgebung, den Kanten des Papiers oder den Raumlinien parallelisieren, bestätigen sie nicht den Raum, widersprechen ihm aber auch nicht. Sie fügen sich ein und sind doch woanders. Das ist schwer zu fassen. Und ist im Raum selbst vielleicht nicht erfahrbar – nur in Gedanken, mit gehörigem Abstand, aus dem grauen Raum des Hirns heraus.

 

Annes Linien sind für mich am ehesten Schnitte, die in den Raum hinein und wieder aus ihm heraus erfolgen; ihre aus- und angeschnittenen Flächen sehe ich am ehesten als „Ballungen“. Ein Schnitt durch den Raum: Er materialisiert sich in Wollfäden, Aufnähern, Strohhalmen oder mit dem Bleistift gezogenen Linien. Das ist nah an der berühmten Definition des Surrealismus, dem „Zusammentreffen von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“, wobei unser Realraum lustigerweise dem Seziertisch entspricht. Es müssen wohl seltsame Bedingungen auf jener Seite der Realität herrschen, von der aus der Schnitt erfolgt, sodass auf unserer Seite Knöpfe und Aufnäher auf einer Wand erscheinen. Ein trockener Surrealismus. (Aber das ist nur eine Analogie.)

 

Wenn Anne geometrische Formen (Kreis, Ellipse, Quadrat oder Rechteck, Dreieck) ausschneidet oder aufzeichnet, sind diese Formen, anders als in der Konkreten Kunst, eher durch ihre material- und werkzeugbedingten Abweichungen vom Ideal gekennzeichnet: Von Hand aus Wollstoff ausgeschnittene Kreissegmente; fast, aber eben nicht ganz exakt Ellipsen bildende handelsübliche Jeansflicken; rechtwinklige Einschnitte in gestreiftem Stoff, die schräg zur vorgegebenen Lineatur laufen. Der Stoff franst, die Schere eiert. Kreisrunde Knöpfe besitzen Stofflichkeit, Farbe, Musterung und entfernen sich so wiederum von ihrem mathematisch flächigen Urbild. Frottee-Waschlappen bilden scheinbar Rechtecke an der Wand, die jedoch nicht durch exakte rechte Winkel oder vollkommen gerade Linien umschrieben werden. Schnüre und Fäden haben, selbst wenn sie schnurgerade (senkrecht, waagrecht) verlaufen, feinste Widerhaken im Raum, die man spüren kann. Sie stoßen und reiben sich im Raum und an der Wand, sind auf ihre eigene stille Weise widerständig und eigensinnig. Sie wirken oft, als seien sie drei Grad wärmer als ihre Umgebung. Die Schwerkraft und die Welt nagen an ihnen: Fäden hängen durch, Stoffstücke wellen sich. Wenn also Annes Linie einmal in sich zurückkehrt, indem sie aus Textilem geschlossene Formen ausschneidet oder sie auf dem Papier mit Bleistift umschließt, versucht diese Linie oft durch mathematische Ungenauigkeit, sich auf eine andere, eher im Kopf abspielende Weise wieder zu öffnen, offen zu sein. Das sollte man aber nicht mit einem individuellen Duktus, einer Handschrift der Künstlerin verwechseln.

 

Oft scheinen die Linien, die sichtbaren Graphitansammlungen, die Fäden oder Stäbe, mit der Andeutung von Räumlichkeit oder der Umschreibung von Form zu tun zu haben – aber wenn man diesen angedeuteten Raum sucht, wenn man die Form greifen will, rutscht man in ein virtuelles Loch und landet wieder auf dem weißen Hintergrund, der von der Linie nichts weiß.

 

Vergiss das Papier (vergiss den Raum).

 

Bei Annes Objekten und Objektensembles verhält es sich etwas anders als in ihren Zeichnungen auf Papier, aber nicht grundlegend anders. Hinzu tritt das Material und der Raum. Ausstellungsraum und -wände können nicht so neutral sein wie das Papier, das sie für ihre Zeichnungen benutzt. Und auch das Material, das sie den Räumen hinzufügt (Stoff, Garn, Leisten, Stäbchen usw.) kann an seiner Außenseite nicht so zurückhaltend auftreten wie ein Bleistiftstrich. Aber das Prinzip bleibt. Was sich scheinbar zur Andeutung eines Raumes bzw. einer Form bzw. einer Formkonstellation im Realraum zusammenfindet, steht eigentlich neben unserem Raum. Eine waagrechte Linie ist kein Horizont, ein lotrechter Faden bildet keinen Rand für einen eigenen Raum der Arbeit aus, zu der dieser Faden gehört. Annes Arbeiten wirken wie an die Außenwand unserer Welt gepinnt, obwohl sie drinnen sind. Ein optischer Trick, der „Gedanken an sich“ in unser Universum projiziert.

 

Also: Neben der beschreibbaren Form, neben dem Raum. Aber wenn nicht da, wo dann?

 

Wenn Anne – meist in ihren Wandobjekten und meist in textilem Material – die Linie sich zur Umrisslinie einer Gestalt, etwa einer ellipsenartigen Form schließen lässt, liegt etwas vor unseren Augen, das geometrische Vorbilder erkennen lässt, diese aber nach meinem Gefühl gar nicht meint. Wie kann man etwas nicht meinen, das dennoch anklingt? Meint die Linie gerade die Abweichung von der Idealform, benennt sie (wortlos und still) den Akt dieser Abweichung? Ist das ein unscheinbar dramatisches Element ihrer Arbeit? (Wahrnehmungspsychologen an die Front!)

 

„Als ob dort drüben auch etwas geschieht“ (dort, wo meine Aufmerksamkeit gerade nicht fokussiert: in der weißen Leere).

 

„Gedanken an sich“: trifft das für die Zeichnungen auf Papier zu? Als wären es Denkvorgänge ohne den fleischlichen Ballast der Neuronen, ohne Störfeuer, aber auch ohne Verflechtung mit anderen Gedanken. Exzerpts aus dem Stream of consciousness, Cut – Out. Wieder stellt sich die Frage nach den Rändern. Anhand welcher Kriterien entscheidet Anne, wo sie ihre Linien enden lässt? Mein Eindruck: Auf früheren Zeichnungen fielen die Ränder des Gezeichneten öfter mit den Grenzen des Papiers zusammen, als sie es heute tun. Das bedeutet vielleicht, dass der Akt der Begrenzung diesen Zeichnungen schon immer immanent war und ihnen keineswegs von materiellen Gegebenheiten (den Maßen des Papiers) oder Zwangsläufigkeiten aufoktroyiert wird. Wohlgemerkt: Eine Zeichnung Annes in ihrer Gesamtheit grenzt ein und aus, zeigt, was zum Dargestellten, aber nicht benannten Phänomen gehört – die Linien, die diese Zeichnung konstituieren, tun das nicht.

 

Vom Gedanken zum Bild. Ufosichtungen.

 

Bleistift auf Papier. Kein Impressionismus, kein Exhibitionismus, kein Expressionismus. Aber die Linien sind auch nicht unbelebt oder, wie man so schön sagt, unbeseelt. Sie tragen „handschriftliche“ und handwerkliche Spuren nur in dem Maß, in dem Anne das zulässt. Modulation der Strichstärke? Minimal. Filigranität als Selbstzweck? Fehlanzeige. Der Bleistift würde mehr erlauben. Auch hier also der willentliche Akt der Begrenzung, der die Linie nicht ins Erzählerische, Gefällige, Anekdotische, Illustrative ausreißen lässt. Begrenzungen, Entscheidungen, Überlegungen: alles Verstandesattribute. Woher aber das Gefühl, dass diese Arbeiten alles andere als nur gedacht sind, dass es sich keineswegs um Raumvermessungen oder abstrakte Manifestationen handelt, sondern dass sie eher Gäste in unserem dreidimensionalen Raum sind? Aus einem anderen Land. Mit anderen Dimensionen.

 

Und was ist der Verstand? Ein grauer, undefinierter Raum, in dem die Gedanken am Bügel hängen? Oder das sprichwörtliche Netz von ständig feuernden Synapsen, das in wissenschaftlichen Lehrfilmen so gern mit einem Lichtermeer aus flackernden, bunten Lämpchen dargestellt wird?

 

Annes Arbeiten sind eher Fragen als Antworten. Und es sind weniger Fragen an jemand oder etwas – auch nicht an „das Material“ –, als vielmehr Fragen ins Nichts, die sich rekursiv wieder an sich selbst wenden (parallele Fäden, die sich ineinander spiegeln). Fragen und Gegenfragen, Echos.

 

 

Die leisen ästhetischen Sensationen, die ihre Objekte hervorrufen, sind keine Antworten auf Formfragen, die z. B. im Verlauf der Kunstgeschichte gestellt (und beantwortet) wurden, keine Fortführung der Abstraktion. Das ist nichts, was Anne nach meiner Wahrnehmung besonders interessieren würde. Ihre Arbeiten existieren in einer Art zeitlichem – auch stilgeschichtlichem – Vakuum ohne Vorher und Nachher, das man sich wieder wie einen grauen, großen, luftigen Raum vorstellen mag, durch den bewegungslose Linien kreuzen. Die vielleicht Gedanken sind. Oder Schnitte. Oder Hereinreichungen aus einer anderen Dimension. Offengelassen.

 

Eine Frage, die sich an sich selbst richtet, ist „einsam" (im Sinne von selbstgenügsam). Deswegen vielleicht die Tendenz ihrer Objekte und Zeichnungen, zuerst Kontakt mit anderen Exemplaren aus derselben Sippe aufzunehmen, bevor sie es mit der Wand und dem Raum tun. Deswegen die Ensembles, Installationen, Gruppierungen, Cluster, deren Mitglieder einen Dialog mit dem Nachbarn führen, die in flächige oder räumliche Beziehung zueinander treten, noch bevor es ein Betrachter tun kann. Deshalb vielleicht auch Annes aufrichtige Neugier, Reaktionen von Betrachtern auf ihre Arbeiten zu bekommen. Ich habe das oft bei ihr erlebt.

 

Natürlich kommunizieren die Arbeiten auch mit dem Raum, in dem sie sich befinden – aber diese Kommunikation scheint nicht der Schwerpunkt ihrer Anwesenheit zu sein.

 

Anne verwendet viel Zeit, die räumlichen Beziehungen ihrer Objekte untereinander mit dem Raum, in dem sie sich befinden, in ein Gleichgewicht zu bringen. Hier scheinen eher klassische Kompositionsprinzipien zu greifen, die verhindern, dass ein Raum durch seine anderweltlichen Hinzufügungen wegdriftet oder ins Kippen gerät. Es sind freundliche Gäste.

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