Wilhelm C. Warning

"Mojé Assefiah und Anne Sterzbach", Neue Galerie Dachau, 2018

 

Auszug aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung

 

Ziehe ich Linien auf einem Papier, einer Wand, oder setze Punkte, entsteht dann Raum? Natürlich, selbst wenn die Linie, der Punkt, der Strich absichtslos gezogen oder gesetzt sind. Grundlage jeder Gestaltung, jeder Architektur, übrigens auch jeder Schrift. Eine einzige Linie, ein einziger Punkt bedeutet Orientierung, weil er Raum sichtbar macht. Genau dies geschieht, wenn Anne Sterzbach sich auf einen Raum einlässt. Ihn sich ansieht, sich mit ihm beschäftigt und aus dem An- oder buchstäblich: Augenblick, aus der vorgefundenen Situation heraus beginnt, ihn durch minimale Eingriffe, durch dreidimensionale Linien, durch Punkte, kleinste Skulpturen, mit unterschiedlichsten Materialien zu verändern – und zwar so, dass durch diese Setzungen andere Felder, neue Räume entstehen, und damit andere Dynamiken. Sie schafft es, das Vorgefundene neu zu gewichten, gibt ihm neue Bewegung und damit eine andere Zeit. Das mag merkwürdig klingen. Tatsächlich aber kann sie mit minimalen Mitteln einen stillen Raum in einen lebhaften verwandeln, wie ein unruhiger Raum durch ihre künstlerischen, geradezu zeichnerischen Eingriffe konzentrierte Ruhe ausstrahlen kann. Das zeigt und zeugt davon, wie sehr Anne Sterzbach eine Meisterin der Linie ist, zeichnerisch, kommt sie doch von der Zeichnung, in der sie zarte Klarheit und poetische Eleganz vereint, auch hier mit minimalen Gesten, Linien, die den Raum des Papiers gliedern, ihn zu einem feinen Kraftfeld werden lassen, zu reiner Poesie, frei von allem Erzählerischen. Aber schon in ihren Zeichnungen ist zu sehen, dass sie die Grenze dieses Fensters ausweitet, gedanklich überschreitet. Mit ihren Linien reicht sie über die Begrenzung des Papiers hinaus, weist in den Raum der Betrachtenden, als ob sich die Fäden verselbstständigen würden oder könnten. Das wäre begrenzte Unbegrenztheit, oder unbegrenzte Begrenztheit – gäbe es dieses Paradoxon, das interessanterweise auf das „Fenster“ verweist, auf das Bild und übrigens auch auf die Ikone, die ja theologisch die Unbegrenztheit in der Begrenztheit formuliert, genauso wie die Ikone das abstrakte, unvorstellbare und undefinierbare Heilige konkret darstellt, ohne eine historische Geschichte zu erzählen. Das Bild bleibt in seiner Darstellung abstrakt und überzeitlich.
Ohne hier eine Parallele zu ziehen, die auch ganz unangebracht wäre, ist es bemerkenswert, dass Anne Sterzbach mir in einer „Textskizze“ zu ihrer Arbeit schrieb „Meine Arbeit folgt keinem inhaltlichen Konzept, keinem „Diskurs“, keinem Thema. Vielmehr eröffnet ihr Formenvokabular Räume visueller Klarheit, die nicht erklärt werden kann, sich aber dem Betrachter erschließt. So entstehen Kraftfelder und Ordnungssysteme von ernsthafter, genauer Leichtigkeit.“
Erklären will und kann ich die Klarheit mit Worten auch nicht. Aber vielleicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, ihren Blick auf die „genaue Leichtigkeit“ lenken und die Exaktheit der Sterzbach‘schen Eingriffe, die diesen beiden ob ihrer großen optischen Unruhe so schwierigen Räume eine akzentuierende Ordnung gegeben haben. Eine Ordnung, die uns die Galerie als Einheit präsentiert, weil die Künstlerin mit ihrem so sicheren Gefühl für Materialität und Raum sich nicht begrenzt hat auf mehrere Installationen. Vielmehr hat sie das Ganze in einen unerhört poetischen Zusammenhang gestellt.
Betrachten wir nur einmal im Raum mit der Fensterfront: Den unterschiedlich aufgebrachten Putz, die Steckdosen, die Radiatoren, die Beleuchtungsleisten, Rauchmelder, die Feuertüre, den Fußboden, die Holzverkleidung – eigentlich ein Unort für stille, minimale Eingriffe. Und dann, wie sicher und wie delikat, fast musikalisch hat Anne Sterzbach ihre winzigen, roten und blauen Quadrate gesetzt. Schauen sie sich das Material dieser winzigen Skulpturen an. Bemerkenswert, wie sie unsichtbare Kraftlinien von den Bildern über die Fensterfront um die Ecke über das zartblaue Fensterbild von Mojé Assefjah, die Türe und den Lichtschalter zieht, alles Vorgegebene in die Wirkung miteinbezieht, poetisch umwandelt. Wie sie dann die Wand mit nur einer Fadenlinie in die Höhe streckt, das Blau aufgreift, und diese Farbe der Ferne im Quadrat auf dem Boden und an der Decke auftaucht, wie es in dem Dunkelbild von Mojé vorhanden ist. Dazu zwei sonnengelbe Akzente als Spannungspole – sehen sie selbst, wie haptisch das Material ist, das sie dazu verwendet. Aber damit nicht genug: An dieser Einbau-Durchgangswand in den rückwärtigen Teil zieht sie eine abknickende Fadenlinie, knickt genau über einer der ungezählten Steckdosen und bringt alles mit einem kleinen Kumulus aus grau blauen Rundpunkten, einer ebenso minimalen wie wirksamen Verdichtung so in Schwingung, dass der Blick weitergezogen wird und eine Korrespondenz mit diesem nach hinten ausgerichteten Raumteil der Galerie entsteht.
Anne Sterzbach fragt nicht nach hässlich oder schön – alles dient bei ihr der Poesie, der Spannung, dem Rhythmus, alles verwandelt sie in ein Gesamtkunstwerk, freilich in einem anderen als dem üblichen Sinn dieses Wortes. Das gilt auch für diesen langen Raum, der vielleicht Kuchentheke oder Kaffeebar des Tanzcafés war, kaum bespielbar mit all den Innereien und Verbauungen und nun mit minimalen Mitteln verwandelt in eine geradezu elegante Installation, einer Korrespondenz mit den beiden Gemälden von Mojé Assefjah, darunter das Sehnsuchtsbild, von dem ich sprach. Eine Sehnsuchtslinie? Nein, es sind vielmehr zwei Fäden, orange und bräunlich und ein Zeichen jener „genauen Leichtigkeit“, die Anne Sterzbach beschreibt. Achten sie, wie der Schatten mitspielt, und die Heizungsrohre, und die beiden Objekte, mit denen die Fäden enden – oder enden sie an der cremefarbenen Lattenwand? – Jedenfalls deuten die Knäuel an, dass hier ein Schlusspunkt sein könnte, oder das Gegenteil, wickelte man die Fäden aus dem Knäuel ab.
Spannung und Kraft aus präziser Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit, aus polaren Spannungen – Poesie, wie sie nur die Kunst vermitteln kann, und ein Reichtum an Fragen und Gedanken, an Verwandlungen und Lösungen, gezeigt von 6
zwei sehr unterschiedlichen Positionen, die sich trotzdem in manchem berühren. Und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist doch erstaunlich viel. Ich danke für Ihr geduldiges Zuhören und wünsche ein intensives Hinsehen.

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