Dr. Stephan Trescher

Leises Beben

Katalogtext, 2006

 

Am Anfang ist die Linie. Oder wohl doch eher die Beutezüge aus den Baumarktregalen, die Fundsachen aus dem Kurzwarengeschäft und überhaupt die Beiläufigkeiten des Alltags: ein Draht, ein Knopf, ein Gummiband.

Anne Sterzbachs Arbeitsweise gleicht in vielem der des Dichters: Sie beobachtet, sammelt Eindrücke, macht sich Notizen und trägt allmählich einen ganzen Berg an Material zusammen. Der will gesichtet sein, muss geordnet werden und Stück um Stück abgetragen; dann schält sich ein Motiv heraus, ein Bild nimmt vor dem inneren Auge Gestalt an - und muss nun noch dem äußeren verdeutlicht werden.

Dafür ist zuallererst der ganze Ballast beiseite zu räumen - und puristisch, wie Sterzbach denkt, ist das das meiste. Was übrig bleibt, muss das Wesentliche in wenigen Worten fassen; wie ein Haiku: streng gebaut, scheinbar beiläufig, aber präzis, klein und unscheinbar und doch ein poetisches Kleinod. In Sterzbachs Oeuvre gibt es Zeichnungen auf Papier und Zeichnungen im Raum. Beide gewinnen in jüngster Zeit zwar an Größe, Gewicht und Farbigkeit, aber selbstverständlich nur in Sterzbach'schem Maßstab; also in Andeutungen und vornehmer Zurückhaltung. Jedenfalls bleiben es Zeichnungen, filigran, nicht gravitätisch, eher spröde als opulent. Die Zeichnungen auf Papier sind immer aus der Anschauung gewonnen, also, wenn man so will, "nach der Natur", aber so weit abstrahiert und reduziert, dass sie immer rätselhaft bleiben; auch wenn sie manches Mal Assoziationen an bestimmte Gegenstände zulassen oder gar nahelegen. Umgekehrt verhält es sich mit ihren Objekten und Installationen, die ich als dreidimensionale Zeichnungen im Raum betrachte, in denen sie zu einer konkretisierten Form der Abstraktion findet. Ein Flaschenverschluss ist ein Flaschenverschluss und ein Pfeifenputzer bleibt ein Pfeifenputzer. Das wird weder verleugnet noch kaschiert, sondern bleibt deutlich sichtbar. Aber es wird auf geradezu magische Weise umgedeutet zu einem Farbakzent, einer Kraftlinie, einem lineraren, energetischen Impuls, aus denen die Künstlerin ihre Bilder baut. So wie also die Gesetze einer abstrakten Komposition ins erstaunlich Gegenständliche transformiert werden, so binden die banalen, gewöhnlichen Objekte die formale Strenge einer nicht abbildenden Kunst zurück ins Alltagsleben. Kandinskys Punkt und Linie zu Fläche hieße bei Sterzbach eher "Hirschhornknopf und Baumwollfaden zu Rohputzwand". Kurz: Das Bild bleibt abstrakt, das Material sehr konkret.

Zum Beispiel die roten Strohhalme, die im fortlaufenden Zickzack aus der Wand ragen. Wenn man seitlich aus einem bestimmten Winkel auf die Wand blickt, verschmelzen sie zu einer einzigen horizontalen Linie, einem roten Strich, der in der Mitte ein bisschen dünner ist als an seinen Enden (S. 9). Dann aber, schon im nächsten Schritt des Näherkommens, werden sie zu einer Verbindung seltsamer Winkel, von denen nicht gleich klar ist, ob sie nach oben und unten oder hinten und vorne weisen. Dieser Charakter des Vexierspiels, der räumlichen Kippfigur bleibt erhalten, auch wenn wir längst begriffen haben, wie die geknickten Strohhalme tatsächlich verlaufen. Wie an einem miniaturisierten Klettergerüst turnen unsere Blicke drunter und drüber, tauchen weg und wieder auf und wollen sich nicht auf eine eindeutige Perspektive, ein endgültiges Bild kaprizieren. Fest steht nur, dass es sich schlicht um ein paar rote Plastikröhrchen auf einer endlos scheinenden weissen Wand handelt, die wie Fühler von Messinstrumenten in den Raum reichen, vielleicht auch wie deren Gegenstück, Zeiger von technischem Gerät, die jeden Moment ausschlagen könnten. Nur: Welche Schwankungen werden hier angezeigt, welchen Erschütterungen wird hier nachgespürt? So viel ist sicher: Es sind feine Veränderungen, leise Beben, minimale Verschiebungen. Schreiten wir schauend die orangefarbene Linie entlang, die zwei senkecht zueinander stehende weiße Wände verknüpft, in Gestalt eines Wollfadens mit Holzknopf (rechts und S. 50): Streng horizontal verläuft der farbige Wollstrich immer an der Wand lang; der hellbraun geflammte Knopf markiert die Ecke, und durch den Abstand zwischen Eingangs- und Austrittsloch verschiebt sich die Höhe des Fadenverlaufs: Er kommt tiefer an, als er fortgeht (oder umgekehrt), er biegt nicht nur um die Ecke, sondern wechselt auch die Geschosshöhe, die Tonlage. Da die Verschiebung in der Horizontalen aber so minimal ist, unternehmen unsere Augen unweigerlich den Versuch, den Strich geradezurücken, ihn zu einer durchgehenden Waagerechten zu machen, ihn als räumliche Klammer zu sehen, als gangbaren Weg zwischen linker und rechter Wand. Da das nicht vollständig gelingt, bleibt ein Moment der Irritation bestehen, ein Widerhaken, der unsere Aufmerksamkeit fesselt, viel eher bindet, als die perfekte Gerade das je könnte. Und je länger man darauf blickt, desto eher kann man zur Überzeugung gelangen, dass das gar kein lineares Gebilde ist, sondern ein kleines zylindrisches Etwas, das zwei starre Arme wie Antennen in unterschiedliche Himmelsrichtungen ausstreckt. Diese funktechnische Assoziation drängt sich da noch direkter auf, wo die Linien aus Draht bestehen und frei durch den Raum gespannt sind, wie bei dem Objekt mit der roten Resopalplatte (unten und S. 33). Aber wahrscheinlicher, als dass das Resopalbrettchen Radiowellen empfängt, ist, dass es selbst Strahlen aussendet. Dieser Wechsel der Eindrücke von passiv zu aktiv beginnt schon damit, dass man für einen kurzen Moment zu sehen glaubt, das rote Rechteck würde von den schwarzen Linien in der Raumecke festgehalten, durch die verspannten Drähte an den Wänden verankert. Schon bald sieht es aber umgekehrt aus, nämlich ganz so, als ob das Brett aus eigener Kraft eine knappe Handbreit über dem Fußboden schweben würde, ein fliegendes Schneidbrettchen, das Materie gewordene Kraftlinien aussendet, Zeichenstriche, die durch das Abknicken des einen flächenverhaftet sind wie eine Wandzeichnung und dennoch eine Spitze des Raumes aus der Zimmerecke herausschneiden, als Volumen wo nicht fassbar, so doch begreiflich machen. Zu diesen Gegensatzpaaren von Halten und Gehaltenwerden, von Raum und Fläche, treten noch die Form- und Farbkontraste zwischen rotem Rechteck, grauem Fußboden, weißen Wänden und schwarzen Strichen, besonders aber der schon eingangs erwähnte Gegensatz zwischen präziser Konstruktion und den Ungenauigkeiten, den Gebrauchsspuren und der Ärmlichkeit des Materials, das man im Falle des Resopalbrettes geradezu als schäbig bezeichnen müsste, würde es durch die Schönheit des Ensembles nicht derart veredelt. Zumindest in diesem Sinne sind Sterzbachs Raumzeichnungen in der Tat eine "arme" Kunst; ihre Materialien sind unprätentiös bis zum Gehtnicht-mehr und stets von geringer Größe. Der Materialaufwand ist also minimal. Doch es wäre mehr als irreführend, für Sterzbachs Kunst den Terminus des Minimalismus zu verwenden; eher sollte man dafür den Begriff des Mikromalismus prägen. Im Unterschied zu den Vertretern der Minimal Art ist es nämlich gerade nicht das Genormte, Glatte, berechenbar Stereometrische, was die Künstlerin fasziniert.

Aus dem Abgenutzten und Verbrauchten zaubert sie die Schönheit hervor, und im Gelingen der Gesamtform schafft sie es, die Unscheinbarkeit der Bestandteile vergessen zu machen.

Es ist stets ein Weniges, das Sterzbach leise, mit nie auftrumpfendem Gestus präsentiert - das aber dennoch eine Positionierung des Betrachters zum Werk einfordert. Ganz buchstäblich schon allein aufgrund der optischen Verschiebungen, die sich aus dem Wechsel der Betrachterperspektive ergeben. Aber eben auch, weil diese minimalen, oft mikroskopisch kleinen Setzungen den Raum erobern: einen eigenen aufspannen und definieren oder den vorhandenen umdeuten, unterlaufen, überspielen. Wie die Wand, die aus dem Gleichgewicht kippt, nur weil die Künstlerin sie rechts oben "angekreuzt" hat (rechts oben und S. 13): Zwei parallel ausgerichtete rote Bleistiftrohlinge, ungespitzt, die jeweils von einem erheblich schlankeren, schwarzen Schaschlikstab gekreuzt werden, so dass sie eine Art Wippe bilden. Das stumpfe Ende der Holzspieße ruht auf der Wand auf, die Spitze ragt in die Luft. Die schwarzen Spieße sind ein bisschen länger als die Bleistifte, so dass die beiden Kreuze auf den ersten Blick in ein delikates Ungleichgewicht geraten. Auf den zweiten ist es ein höchst subtil austariertes Gleichgewicht der Kräfte, das Masse gegen Länge, Farbigkeit gegen Gerichtetsein ausspielt. Diese sorgfältig ausbalancierten Kreuze sind nun so auf die weiße Wand gesetzt, nämlich ganz in die obere rechte Ecke, dass nicht bloß ein Schaschlikspieß über den Rand der Wand hinausragt, sondern die ganze große Mauer optisch aus dem Gleichgewicht gerät und scheinbar aus dem Lot zu kippen droht.

Denn ihre subtilen Setzungen können mitunter wie winzige Explosionen wirken, die unhörbar stattfinden, sich aber im vielfachen Nachhall zu einer kompletten Verwandlung des Raumes aufschwingen und in unserer Wahrnehmung das Unterste zuoberst kehren. Dabei ist die Menge des optischen Dynamits so gering wie möglich gehalten, geradezu homöopathisch dosiert. Sterzbachs Umgang mit ihrem Material gleicht einem fast schon alchimistischen Prozess der fortwährenden Läuterung, des Destillierens, Eindampfens, Ruhenlassens und weiteren Reduzierens, bis am Ende das Allermeiste sich wieder verflüchtigt hat und nur noch ein Konzentrat übrig bleibt, mit viel spürbarem Raum ringsum, einer spannungsgeladenen Leere.

In der großen Stille hört man auch einen einzelnen Tropfen fallen.

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