Dr. Magdalena Holzhey

Linien und Räume

 

Katalogtext zur Ausstellung "Anne Sterzbach", Neue Galerie Dachau, 2003

Ich erinnere mich an den Moment, als ich den Arbeiten von Anne Sterzbach das erste Mal von Angesicht zu Angesicht begegnete. Nach Düsseldorf angereist, um eine Installation zu planen, öffnete sie ihre große Reisetasche und zog wie aus einem Zauberkoffer allerlei Materialien, lange Schnüre, Essstäbchen, aufgerollte Stoffbahnen, Schaschlikspieße, schwarze Gummibecher, weiße Gipsblöcke hervor. Sie arbeitete mehrere Stunden im Nebenraum, und was ich auf Abbildungen nur hatte erahnen können, war eingetreten. Der Raum war ganz und gar verwandelt, beinahe so, als wären überall zarte Instrumente angebracht worden, die auf eine Verfeinerung der Wahrnehmung einstimmten.

Wie beschreiben, in welchem Moment ein Objekt sich selbst und seine Umgebung verzaubert - und warum? Eine Gratwanderung, wann da einfach eine Schnur im Raum hängt und wann sie dort zwingend hängen muss, um Energie fühlbar werden zu lassen. Anne Sterzbach weiß das. Darum arbeitet sie behutsam, platziert ihre Objekte mit Bedacht im Raum, rückt sie einen Zentimeter mehr nach links, und auf einmal stimmt alles.

Anne Sterzbachs Objekte sind still, von minimalistischer Strenge. Häufig lächeln sie auch. Da hängen dicht an der Wand, die Höhe des Raumes durchmessend, zwei schmale weiße Stoffstreifen nebeneinander. Der rechte liegt, kurz über dem Boden, auf einem kleinen Gipsbänkchen auf, das die Energie der stürzenden Linie aufzuhalten und zu konzentrieren scheint. Von der Seite gesehen fällt das Auge auf einmal in den dunklen Spalt des Schattens zwischen Streifen und Wand, als öffnete sich dahinter eine ungeahnte Tiefe.

Anne Sterzbachs scheinbar schwerelose oder lastende, plötzlich erscheinende oder beinahe verschwindende Objekte bewegen sich im Übergang zwischen Raum und Fläche. Die Erschließung des dreidimensionalen Raumes und die Auseinandersetzung mit der zweidimensionalen Fläche sind für die Künstlerin gleichermaßen wichtig.

Ihre höchst spannungsreichen Bleistiftzeichnungen entstehen aus einer plötzlich wahrgenommenen Bewegung, einer Linie im Alltag, die ihr ins Auge springt. Diese eigenwillige Form von selektiver Wahrnehmung bildete sich mit Vehemenz vor acht Jahren bei einem Studienaufenthalt in London aus. Anne Sterzbach erinnert sich an lange Busfahrten durch die fremde Stadt, in einer absichtslosen Stimmung, ein wenig so, als würde man sich gelangweilt einen Film ansehen. Sie erinnert sich, wie ganz plötzlich eine Sache wichtig wurde, ein Ding der Außenwelt - ein Vorhang, ein Rinnstein, der Schwung eines Armes - das ihr die Chance gab zur Formulierung eines energetischen Bildes. Was ihr auf diese Weise den Zugang zur Welt aufschloss, gibt sie dem Betrachter ihrer Arbeiten zurück, der "in Freiheit die Augen (zu) öffnen" vermag. (Anette Ruttmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, in: Anne Sterzbach, Objekte und Zeichnungen, Nürnberg 1998)

Die enge Verbindung von Zeichnung und Objekt ist entscheidend für die Arbeit von Anne Sterzbach - ganz so, als würden sich die Zeichnungen immer wieder in den Raum hinein fortsetzen. Zwei schwarze Bögen aus Draht umklammern eine Ecke des Raumes und treffen sich über einem aus dem Boden ragenden Zahnstocher - einer feinen hellen Linie -, aus dem sie wie zwei Wasserstrahlen zu entspringen scheinen. Davor fällt ein fragiles Gebilde aus Holzspießen und weißem Nähgarn, fast unsichtbar, aus der Wand in den Raum. Mit ihren aus Alltagsmaterialien entstehenden Objekten arbeitet Anne Sterzbach in einem "Zwischenbereich des Materiellen und Immateriellen" (Petra Weigle), in dem jeder Gegenstand zugleich konkrete und abstrakte Eigenschaften besitzt. Dem Alltäglichen wird eine formale und atmosphärische Kraft abgespürt, die sich im Dialog mit dem Umraum, im Spiel mit Licht und Leere, entfaltet.

Die Objekte werden meistens unmittelbar durch die ästhetischen und haptischen Eigenschaften des gefundenen Materials inspiriert, das nur selten zugeschnitten oder auf andere Weise verändert wird. Ein Strohhalm ist eine Linie, die innen hohl ist. Sie kann abknicken und neugierig um die Ecke schauen. Ein Pfeifenputzer ist der rhythmisierte Pinselstrich eines Aquarells an der Wand, der in den Raum ausstrahlt. Die Spitzen zweier gegeneinander gerichteter Schaschlikspieße, die sich nur fast berühren, laden den kaum sichtbaren Raum zwischen ihnen energetisch auf. Was Anne Sterzbach in ihren Arbeiten umsetzt, beschreibt Franz Xaver Baier anschaulich in seiner Schrift über den Raum:" Materialien erzeugen Nähen und Distanzen...(...)Räume stecken bereits in den Materialien." (Franz Xaver Baier, Raum. Prolegomena zu einer Architekturdes gelebten Raumes, Köln 1996, S. 98.)

Anne Sterzbachs Arbeiten sind genaue Setzungen im Raum, manchmal spröde und widersprüchlich, manchmal heiter und leicht, immer jedoch überraschend, kraftvoll, oszillierend. Sie nehmen das strapazierte Auge gegen die Bilderflut in Schutz und schulen gleichzeitig unsere Fähigkeit, Räume zu erschließen. "Räume sind Lebewesen", schreibt Baier. "Sie können sich dehnen, strecken, runden, abheben, fliegen und uns mitnehmen." (Franz Xaver Baier, a.a.O., S.7.) Dies will Anne Sterzbach: die Dinge in eine Freiheit entlassen, dorthin, wo sie ihr eigenes Leben entfalten können und zu Gebilden werden, die fähig sind, für sich selbst zu sprechen.

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