Anette Ruttmann

Ich sehe was, was du nicht siehst

 

Katalogtext zur Ausstellung "Anne Sterzbach und Christian Faul", Galerie Defet, Nürnberg, 1999


Wir sehen auf dem Papier grauschwarze Striche, die irgendwoher kommen und nirgendwohin zu führen scheinen, wir sehen Fäden und Metallschienen, die an der Wand befestigt sind. Sie bilden nur selten etwas ab und kein Wiedererkennen erleichtert das Sehen. Ich sehe die Hilflosigkeit in den Augen des einen, ein anderer fühlt sich auf den Arm genommen, seine Ängste äußern sich in einer Wut, die ich nicht empfinden kann. Ich bin über meine Sicherheit, daß dies wirklich Kunst ist, erstaunt. Schon beim ersten Blick und später, bei noch so schlechter Gemütsverfassung, erfahre ich diese Zeichnungen und Objekte als spannend, anregend und wie eine Befreiung.
Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist:
Diese unscheinbaren Linien besitzen die Fähigkeit, Gedanken herzustellen, sie sichtbar und fühlbar zu machen. Sie verfügen über eine Energie, die eine schwächer gewordene Batterie auflädt, eine lahmende Fantasie in Schwung bringt. Ich sehe eine in Ihrer Radikalität wohltuende Schlichtheit. Die Abwesenheit der Gegenstände empfinde ich als Erleichterung. Da geizt jemand mit Formen und gewinnt an Bedeutung.

Meine Augen werden schärfer. Ich sehe, daß Anne Sterzbach diese Objekte und Zeichnungen nicht willkürlich geschaffen hat, sondern mit vorsichtiger, aber sicherer Hingabe - unbelastet von Vor-Bildern, eher sind sie als energetische Gegen-Bilder zu bezeichnen. Der Bleistift, den sie verwendet, darf weich sein, aber den Kohlestift meidet sie: Sie sagt, seine Handhabung bringe zu bequeme Striche hervor, er entziehe sich dem festen Griff. Was mir vorbildlich - asketisch erscheint, sind in den Augen der anderen kümmerliche, dilettantische Striche, Armutsbeweise, weit davon entfernt, Kunst zu sein.

Ich sehe das, was du noch nicht siehst!
Mich aber fasziniert das sparsame Wechselspiel von geraden und gebogenen Linien, ihre zarte Klarheit und zurückgenommene Eleganz. Wir dürfen uns den Luxus erlauben, nicht nur einmal zu gucken, sondern zweimal, dreimal, viermal, fünfmal... wir haben Zeit. Wir müssen nicht gleich verborgene Wahrheiten erblicken, dürfen in Freiheit die Augen öffnen. Die Objekte und Zeichnungen der Künstlerin fordern uns heraus - heraus aus unseren Sehgewohnheiten. Zuweilen sind sie spröde und karg, sie stellen Anforderungen an unser Vor-stellungsvermögen. Sie sind ernst aber dennoch leicht. Sie scheinen zurückhaltend und zugleich anziehend. Sie sind klug und - sehr wahrscheinlich - auch philosophisch.
Siehst du was, was ich noch nicht gesehen habe?
Da ist dieses Blatt mit den drei gezeichneten Fäden. Es sind Striche, die die Eigenschaft von Fäden haben. Sie gehorchen der Schwerkraft, sie fallen von oben herab, kommen aus dem Raum, von weiter her.
Sie haben in der Vergangenheit ihren Anfang genommen und setzen sich in Gegenwart und Zukunft fort. Am unteren Bildrand hören sie nicht auf, obwohl ihre Enden dort auf einen Widerstand zu treffen scheinen, der sie dazu bringt, kleine Schlaufen zu bilden, die sich im Unsichtbaren weiterrunden. Das Papierende hat sie nicht wirklich aufgehalten, also wäre auch der freie Fall möglich gewesen; sie sind ein sichtbares Paradox, eine Denkfigur mit einem witzigen kleinen, zu kurz gekommenen Strich in der Mitte, dem eine andere kleine Linie, ein Ableger, entgegenstrebt.

Es gibt ein Pendant zu dieser Zeichnung in einem Objekt. Vielleicht ist es auch eine Steigerung. Sind es nicht vom Papier befreite Zeichen? Aber was die Zeichen dort an das Papier bindet, hat sich hier in einen Hauch von Materie verwandelt. Wir sehen zwei Fäden, die an der Wand befestigt sind. Die Schlaufen befinden sich an einer anderen Stelle, sie geben den Fäden etwas positiv Menschliches, Sensibilität und eine weibliche Anmut in dieser kleinen unerwarteten Bewegung, die nicht nur dem Fallgesetz zu gehorchen scheint. Fäden sind mehr als Fäden ... sie spinnen sich fort und fort. Es gäbe noch viel über sie zu sagen:

Du siehst, was ich noch nicht gesehen habe?
Diese Fäden der Anne Sterzbach sind aus dem Garn-Knäuel der Ariadne, mit ihnen können wir unseren Weg aus dem Labyrinth der Dinge finden.

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